Die fünfte Jahreszeit

Der limitierte Bildband „THE FIFTH SEASON“ des in München lebenden Fotografen Christoph Grothgar ist eine eindrückliche, in Schwarz-Weiß dokumentierte Hommage an das weltgrößte Volksfest

Fotos & Text: Christoph Grothgar

Das erste Mal war ich 2012 auf dem Oktoberfest und der Besuch dieses weltgrößten Volksfestes überwältigt einen ganz schön. „Wenn du im Zelt unterm Balkon stehst, sei vorsichtig und pass auf, dass dir keine Mass auf den Kopf fällt.“ – „Das Bier ist wirklich stark und Du musst aufpassen, sonst bist du superschnell betrunken.“ – „Brich nicht das Siegel!” Mit anderen Worten – vermeide es, so lange du kannst, auf die Toilette zu gehen. Denn sobald du das Siegel brichst, musst du immer wieder und wieder. Viele solcher Ratschläge wurden mir mitgegeben, bevor ich das berühmte Spektakel zum ersten Mal in meinem Leben besuchte, das in der letzten Septemberwoche beginnt und zwei Wochen lang bis in den Oktober hinein dauert. Ich wurde nach den Feierlichkeiten des Jahres 1969 gezeugt, daher hatte ich immer das Gefühl, dass ich ohnehin schon eine gewisse Affinität zu diesem besonderen Fest in mir trage. Aber als es darum ging, es endlich zu besuchen, war ich, gelinde gesagt, etwas nervös.

Der einzige Ratschlag, der einigermaßen der Wahrheit entsprach, war, die Regel nicht zu brechen. Und glauben Sie mir, Sie wollen keine Toilette in einem Bierzelt besuchen. Wenn der Teufel einen Ort für harte Strafen geschaffen hat, dann diesen. Doch die fünfte Jahreszeit, wie sie von den Einheimischen so liebevoll genannt wird, ist jedes Mal eine besondere Zeit. Der erste Tag, an dem man alles in einem noch jungfräulichen Zustand vorfindet, lässt das Herz höherschlagen. Alles lädt einfach zum puren Vergnügen ein. Du spürst, dass dir nichts etwas anhaben kann. Man ist Teil einer gemeinsamen Suche, die die Menschen, die zum Feiern hierherkommen, dazu bringt, eine Trinkkultur gleichermaßen ernst und albern zu zelebrieren, und alle daran teilhaben lässt. Man befindet sich quasi inmitten entfesselter Emotionen.

Worum es wirklich geht, ist auch eigentlich egal. Man sitzt an einem Tisch, und Menschen, die man noch nie zuvor getroffen hat, stoßen mit einem an. Es werden Geschichten erzählt, und man ist fröhlich, bis die Realität einen einholt und der eigene Körper einen wissen lässt, dass man nicht unbesiegbar ist. Manchmal ist es dann schon zu spät, und der Weg nach Hause ist weiter, als er je zuvor im Leben war.

Aber was man mitnimmt, wenn man in der fünften Jahreszeit zum ersten Mal eine Maß unter dem weiß-blauen Himmel trinkt, ist, dass wir irgendwie alle gleich sind, egal aus welcher Gegend der Welt wir kommen. 2013 beschloss ich, diese ersten Erfahrungen zu dokumentieren, sammelte auch Vorlieben und Abneigungen meiner Münchner Freunde und begann anschließend mit der Erstellung dieses Buches aus der Sicht von jemandem, der die Wiesn zum ersten Mal besucht.