Tracht oder Trainingsjacke? Adidas hat ein Dirndl entworfen. Wir nehmen es sportlich und begrüßen den Mut zur Vielfalt.
Eine Stilkolumne von FESCH Autorin Sandra Michel
Ein Abend im Bierzelt gleicht einem Angriff auf die Sinne. Schwitzige Körper drängen sich aneinander, man brüllt, statt zu reden – und wenn ein Maßkrug kippt, wird es schnell mehr feucht als fröhlich. Auf den Bänken tobt der Wahnsinn.
Da mag man sich fragen, warum nicht lieber Couch statt Zelt. In Jogginghosen, Sweatshirt und Tennissocken hätte man es bequemer. Denn gerade als Frau kann man es ruhig mal zugeben: Die heimliche Regel „In einem Dirndl sollte man nicht atmen können“ fühlt sich 2025 einfach nicht mehr zeitgemäß an.
Adidas scheint das ähnlich zu sehen – und hat kurz vor dem Anstich ein Dirndl für 350 Euro auf den Markt gebracht. Statt Mieder und Bluse gibt es Polyester am Stück, geschnitten wie eine Trainingsjacke mit Reißverschluss, Bündchen und Stehkragen. Drei Streifen auf den Ärmeln, das Logo auf der Schürze, die Farben: Black oder Chalk White, Luft holen inklusive.
Ist das „the end of the Dirndl as we know it“? Menschen mit Gelassenheitsdefizit wittern den Untergang des Abendlandes. In der „Welt“ heißt es: „Echte Verbundenheit mit bayerischer Tradition sieht anders aus.“ Dass das Dirndl selbst erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, wird dabei gern übersehen.
Also nur kein Neid. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, ist es müßig zu fragen, warum eine Firma, die einst die Nationalmannschaft einkleidete, in Sachen Tracht mitmischt. Spannender ist die Frage, warum sie es erst jetzt tut. Denn der Trend zur Trachten-Expansion bei großen Labels ist unübersehbar. Auch die Marke Highsnobiety hat heuer gemeinsam mit dem Traditionshaus Lodenfrey eine Oktoberfest-Kollektion entworfen, darunter ein wetter-, wasser- und bierfestes Goretex-Dirndl. Ideal für alle, die im Bierzelt trocken bleiben wollen. Offenbar sind das mindestens drei Personen – so hoch war die Auflage, die bereits ausverkauft ist.
„Wo bleibt eigentlich die Vielfalt?“ fragte noch 2016 „Die Zeit“ und befand: „Das Bierzelt erzeugt mit seinem einheitlichen Dresscode eine Homogenität und Uniformität, die den Beobachter erschaudern lässt.“ Eine „unsägliche Volkstümelei“ beklagte der Autor damals. Wir begrüßen jedenfalls ausdrücklich jegliche Diversität, die Mode hervorbringt. Trachten sind für alle da. Oder, wie es in einem anderen Kulturkreis heißt, wo man sich ebenfalls einmal im Jahr in fantasievoller Verkleidung rauschhaften Exzessen hingibt: Jeder Jeck ist anders.



